Grundsätze des Strafverfahrens

Das Strafverfahren wird von Grundsätzen geprägt, deren Kenntnis eine effektive Verteidigung überhaupt erst ermöglicht. Die folgende Darstellung soll dabei einen kurzen Überblick über einen Teil dieser Grundsätze geben, welche gewissermaßen die „Spielregeln“ des Strafverfahrens ausmachen.

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Unschuldsvermutung

Vielen Personen wird das geflügelte Wort „in dubio pro reo“, also „Im Zweifel für den Angeklagten“ bekannt sein. Gewissermaßen als Kernstück des Strafverfahrens soll die Unschuldsvermutung hier an erster Stelle stehen.

Das Gericht hat „Im Zweifel für den Angeklagten“ zu entscheiden.

Dabei ist es allerdings nicht erforderlich, daß der Richter schlichtweg jeden Zweifel endgültig ausräumen kann. Ausreichend ist es, daß vernünftige Zweifel nicht mehr gegeben sind und der Richter von der Schuld des Angeklagten „überzeugt“ ist. Fernliegende Möglichkeiten, auf welche Weise das Geschehen sich anders – nämlich zugunsten des Angeklagten – abgespielt haben könnte, schließen die erforderliche Überzeugung von der Schuld des Angeklagten nicht aus.

Mandanten meinen häufig, daß der Richter sie gar nicht verurteilten könne und mithin gar keine Gefahr bestehe. Schließlich stehe „Aussage gegen Aussage“. Gar so einfach ist die (Rechts-)Lage allerdings nicht. Entscheidend für die Urteilsfindung ist allein, ob der Richter, der das Urteil zu fällen hat, nach der Beweisaufnahme Zweifel an der Schuld des Angeklagten hegt. Dabei kann den Richter auch die Aussage eines Belastungszeugen überzeugen, auch wenn der Angeklagte das Tatgeschehen gegenteilig schildert.

Aufgabe der Verteidigung ist also stets die Prüfung, ob sich das der Anklage zugrunde liegende Tatgeschehen auch in anderer, einer Strafbarkeit des Mandanten entgegenstehender Weise abgespielt haben kann. Belastungszeugen hat der Verteidiger zu hinterfragen, wozu eine umfassende Kenntnis der Ermittlungsakte unabdingbar ist.

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Schweigerecht

Hand in Hand mit der Unschuldsvermutung geht das Recht des Beschuldigten, im Strafverfahren zu schweigen. Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten („nemo tenetur se ipsum accusare“).

Das Schweigen des Beschuldigten darf nicht zu seinen Lasten ausgelegt werden, so daß aus dem Schweigen des Beschuldigten insbesondere nicht der Schluß gezogen werden kann, daß er schuldig ist beziehungsweise „etwas zu verbergen“ hat. Entsprechend sieht das Gesetz vor, daß der Beschuldigte vor seiner Vernehmung über dieses Recht zu belehren ist, wobei allerdings aus Sicht der Strafverteidigung eine Verletzung der Belehrungspflicht nur unzureichende Konsequenzen für die Strafverfolgung zur Folge hat, so daß ein gewisser Anreiz bestehen mag, lieber eine Aussage ohne Belehrung als gar keine Aussage zu erhalten.

Das Schweigerecht kann im Einzelfall durchaus ein zweischneidiges Schwert sein, da derjenige, der nichts sagt, auch nichts zu seinen Gunsten vortragen kann. Es bedarf daher in jedem Einzelfall einer umfassenden Abwägung, ob von dem Schweigerecht Gebrauch gemacht werden sollte.

Das Schweigerecht ist dabei auch bereits im Ermittlungsverfahren von ganz entscheidender Bedeutung. Auch hier ist der Beschuldigte nicht verpflichtet, sich selbst zu belasten, wobei dies nicht nur Aussagen betrifft, sondern auch „Handlungen“. Er ist also nicht verpflichtet, aktiv am Strafverfahren mitzuwirken, sondern muß gesetzlich vorgeschriebene Untersuchungsmaßnahmen lediglich im Rahmen des Zulässigen erdulden. So muß er etwa bei Verdacht auf Trunkenheit im Straßenverkehr nicht „pusten“, also einen Atemalkoholtest durchführen. Auch ist er nicht verpflichtet, im Rahmen einer sodann angeordneten Blutentnahme seinen Gleichgewichtssinn durch das Schreiten auf einer weißen Linie unter Beweis zu stellen.

Ob eine Aussage getätigt werden sollte, wird ein Strafverteidiger regelmäßig erst nach Akteneinsicht entscheiden.

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Keine Strafe ohne Gesetz

Der Beschuldigte soll sich vor der Begehung der Tat darauf einstellen können, daß diese unter Strafe gestellt ist. Niemand darf daher für eine Tat bestraft werden, wenn die Tat zum Zeitpunkt ihrer Begehung noch nicht strafbar war. Nachträgliche, die Strafbarkeit erst begründende Gesetzesänderungen dürfen sich daher grundsätzlich nicht zum Nachteil des Beschuldigten auswirken.

Von Bedeutung ist dieser selbstverständlich klingende Verfahrensgrundsatz insbesondere dann, wenn ein Gesetz derart weit ausgelegt wird, daß mit einer solchen Auslegung vernünftigerweise nicht zu rechnen war. Auch in diesem Fall kann man zutreffend einwenden, daß es einer Sanktionierung an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage fehlt.

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Beschleunigungsgrundsatz

Ein Strafverfahren geht typischerweise mit erheblichen Belastungen für den Beschuldigten einher. Dem wird dadurch Rechnung getragen, daß der Beschuldigte ein Recht auf ein „in angemessener Zeit“ durchgeführtes Verfahren hat. Geregelt ist dies etwa in Art. 6 Abs.1 S.1. der EMRK, wobei sich Ausprägungen dieses Grundsatzes an verschiedenen Stellen im deutschen Strafverfahrensrecht finden.

Eine erhebliche Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes kann dabei zur Folge haben, daß der Verstoß im Rahmen der Urteilsfindung zu kompensieren ist. Dabei erfolgt diese Kompensation nach der Rechtsprechung in der Weise, daß das Gericht die Verfahrensverzögerung bei der Bemessung der Strafe zunächst außer acht läßt, dann aber ausspricht, daß ein gewisser Teil der Strafe als bereits vollstreckt gilt.

Da die Untersuchungshaft einen besonders intensiven Eingriff in die Rechte des Beschuldigten darstellt, ist hier auch der Beschleunigungsgrundsatz besonders umfänglich ausgestaltet, indem das Gesetz enge Fristen vorsieht, binnen derer dem Verfahren Fortgang zu geben ist. Auch sind prozessuale Möglichkeiten gegeben, im Falle von dem Staat anzulastenden Verfahrensverzögerungen die Aufhebung der Untersuchungshaftanordnung zu erwirken.

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Rechtliches Gehör

Weithin bekannt ist es, daß dem Angeklagten im Strafverfahren das Recht des letzten Wortes zusteht. In erster Instanz plädiert zunächst die Staatsanwaltschaft, sodann der gegebenenfalls vorhandene Verteidiger. Abschließend steht dann dem Angeklagten das Recht zu, sich vor der Beratung des Gerichts und Verkündung des Urteils zu äußern. Wird danach wieder in die Beweisaufnahme eingetreten – etwa weil versehentlich die Vorstrafen nicht erörtert worden sind –, so ist dem Angeklagten auch erneut das letzte Wort zu gewähren.

Dieses bedeutet allerdings nicht, daß der Angeklagte sich lediglich am Ende der Hauptverhandlung äußern kann. Jeder Angeklagte hat ein sich aus dem Grundgesetz ergebendes Recht darauf, sich umfassend zu den ihm gegenüber erhobenen Vorwürfen äußern zu können. Der Angeklagte kann dabei nicht nur den Zeugen selbst Fragen stellen, sondern auch das Ergebnis der Zeugenvernehmung gegenüber dem Gericht würdigen.

Seine Äußerungen sind dabei in sachgerechter Weise in die Erwägungen des Gerichts einzubeziehen. Die Entscheidung des Gerichts muß erkennen lassen, sich mit den Einwänden des Beschuldigten in hinreichender Weise auseinandergesetzt zu haben.

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Ermittlungsgrundsatz

Im Gegensatz zum Zivilverfahren, in welchem das Gericht grundsätzlich nur die von den Parteien angebotenen Beweismittel auswerten darf, ist das Gericht im Strafverfahren (ebenso wie auch die Staatsanwaltschaft) verpflichtet, den Sachverhalt unter Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Beweismittel unabhängig von den Beweisanträgen des Angeklagten, seines Verteidigers sowie der Staatsanwaltschaft zu erforschen.

Dabei reicht das Beweisantragsrecht des Angeklagten allerdings weiter als die Aufklärungspflicht des Gerichts. Nicht jeder Zeuge, welcher auf einen Antrag des Angeklagten hin zur Hauptverhandlung zu laden gewesen wäre, ist von dem Gericht ohnehin im Rahmen der Aufklärungspflicht zu hören. Wer also sicherstellen will, daß „seine“ bislang nicht geladenen Zeugen auch gehört werden, sollte in der Hauptverhandlung einen entsprechenden Beweisantrag stellen. Angesichts der strengen Anforderungen, welche an einen wirksamen Beweisantrag gestellt werden, ist es ratsam, einen Verteidiger hinzuzuziehen.

Da das Gericht die Wahrheit zu erforschen hat, darf das Gericht im Übrigen selbst ein Geständnis des Angeklagten nicht als ausreichend erachten, wenn es Zweifel an dessen inhaltlicher Richtigkeit hat.

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Öffentlichkeitsgrundsatz

Auch wenn Angeklagte auf diesen Verfahrensgrundsatz häufig gerne verzichten würden: Die Hauptverhandlung findet – von besonderen Verfahrenskonstellationen abgesehen – nicht hinter verschlossenen Türen statt, sondern unter dem zumindest potentiell wachsamen Auge der Öffentlichkeit, auch wenn die Öffentlichkeit diese Möglichkeit nur in geringem Umfange wahrnimmt, so daß sich regelmäßig allenfalls ein Vertreter der örtlichen Presse als Zuschauer im Gerichtssaal befindet.

In bestimmten Fällen kann beantragt werden, die Öffentlichkeit zumindest für Teile der Hauptverhandlung auszuschließen.

Der Gerichtssaal muß dabei grundsätzlich – im Rahmen der bestehenden bzw. zumutbar zu schaffenden Kapazitäten – jedermann offenstehen. Auch muß sich jedermann rechtzeitig vorher über Verhandlungszeit und –ort informieren können.

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Mündlichkeitsgrundsatz

Der Mündlichkeitsgrundsatz gebietet, daß allein der Prozeßstoff dem Urteil zugrunde gelegt werden darf, welcher in der Hauptverhandlung zur Sprache gekommen ist. Wenn etwa Vorstrafen verwertet werden sollen, müssen diese in der Verhandlung umfassend erörtert worden sein. Auch darf das Gericht sich im Urteil nicht auf Urkunden beziehen, die sich in der Ermittlungsakte befinden, indes gar nicht in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind.

In Verbindung mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz dient der Mündlichkeitsgrundsatz dabei auch dem Zweck, das Ergebnis der Verhandlung für die interessierte Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.

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Unmittelbarkeitsgrundsatz

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz steht in direktem Zusammenhang mit dem Mündlichkeits- und dem Öffentlichkeitsgrundsatz. Danach hat sich das Gericht von dem Angeklagten sowie allen Beweismitteln einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Das Gericht kann daher regelmäßig nicht auf frühere Aussagen von Zeugen zurückgreifen, sondern hat die Zeugen in der Hauptverhandlung persönlich anzuhören.

Dabei kann die vorherige Aussage des Zeugen allerdings beispielsweise in der Weise in das Verfahren eingeführt werden, daß der den Zeugen seinerzeit vernehmende Polizeibeamte in der Hauptverhandlung als Zeuge über den Verlauf und den Inhalt der Vernehmung aussagt. Auch dürfen Zeugen Teile vorheriger Aussagen zur Gedächtnisunterstützung vorgehalten werden.

Der frühere Vernehmungsbeamte darf allerdings nicht „ersatzweise“ für den Zeugen aussagen, wenn sich dieser in der Hauptverhandlung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft, welches etwa darauf beruhen kann, daß es sich um den Ehepartner des Angeklagten handelt.

Besteht bereits im Ermittlungsverfahren die Vermutung, daß ein wichtiger Zeuge in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wird, so findet häufig noch im Ermittlungsverfahren eine richterliche Vernehmung des Zeugen statt. Diese kann dann Eingang in die spätere Hauptverhandlung finden durch Vernehmung des Ermittlungsrichters, der die Vernehmung durchgeführt hat.

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Grundsatz des gesetzlichen Richters

Jeder Beschuldigte hat das grundgesetzlich verbriefte Recht auf den sogenannten „gesetzlichen Richter“. Der Richter darf danach nicht erst bestimmt werden, wenn der konkrete Fall anliegt. Statt dessen sind die gesetzlichen Vorgaben und die Geschäftsverteilungspläne der Gerichte so zu gestalten, daß von vornherein feststeht, welcher Richter für welche Angelegenheit zuständig ist. Dies betrifft nicht nur die Berufsrichter, sondern auch die Laienrichter (sog. Schöffen). Im Einzelfall kann es dabei durchaus schwierig zu beurteilen sein, ob die Richterbank richtig besetzt ist.

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Grundsatz des fairen Verfahrens

Aus diesem Grundsatz („fair trial“) ergibt sich eine Vielzahl von Rechten und Pflichten, welche letztlich die Belastung des Strafverfahrens für den Beschuldigten begrenzen und dem Grundsatz Rechnung tragen sollen, daß der Beschuldigte nicht lediglich ein bloßes Objekt des Strafverfahrens ist. So ist dem Beschuldigten etwa ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn er nicht in der Lage ist, sich selbst in angemessener Weise zu verteidigen.

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– Überlassen Sie Ihre Strafverteidigung nicht dem Zufall –